Stefanie Endlich
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Spuren und Metaplasseis“
Galerie im Körnerpark, 30. April 2008
Wenn zwei eigenständig arbeitende künstlerische Persönlichkeiten zu einer gemeinsamen Ausstellung zusammengespannt werden, so ist das immer auch ein Wagnis für alle Beteiligten. Kanella Tragousti und Pantelis Sabaliotis haben unabhängig voneinander ihre Arbeiten und Werkgruppen geschaffen. Jeder Part steht für sich selbst, nicht auch für den anderen. Dennoch könnten die Besucher gerade auch nach Bezügen zwischen beiden Arbeitsweisen suchen, nach Berührungspunkten vielleicht, nach Parallelen, nach Unterschieden.
Die Veranstalter, das Kulturamt Neukölln und der Verein „Exantas Berlin“, hatten allerdings gute Gründe, Kanella Tragousti und Pantelis Sabaliotis hier zusammenzubringen. Zum einen natürlich deren griechische Herkunft; das Neuköllner Kulturamt unter der Leitung von Dr. Dorothea Kolland hat sich ja seit vielen Jahren immer wieder gerade der griechischen Gegenwartskunst und -kultur gewidmet. Weiterhin haben beide Künstler längere Studien- und Arbeits-Aufenthalte in Frankreich verbracht; dies hat dazu beigetragen, dass sie vertraut sind mit dem Werk französischer Philosophen und mit intellektuellen Diskursen auf hohem Niveau.
Gemeinsam ist ihnen auch die dauerhafte Wahl Berlins als Ort zum Leben und Arbeiten. Eine existenzielle Entscheidung, die sich natürlich auch in ihrer Kunst niederschlägt. Die Frage, wie viel Griechenland, wie viel Frankreich, wie viel Berlin-Bezug in ihren Arbeiten zu finden ist, würde allerdings in die falsche Richtung führen. Der geistige Zusammenhang, der das Werk von Kanella Tragousti und das von Pantelis Sabaliotis prägt, hat einen genuin grenzüberschreitenden Charakter und ist nicht einem bestimmten Land oder einer bestimmten Stadt verhaftet. Aufenthalte hier und dort haben die jeweilige Arbeit bereichert, aber nicht im regionalen Sinn, sondern in Form erweiterter Erfahrungen, die in die künstlerischen Handschriften einflossen und so an die Stadt und an die Welt weitergegeben wurden. Es ist fast ein halbes Jahrhundert her, dass der Schriftsteller Witold Gombrowicz, der seine Berliner Zeit in den berühmten „Tagebüchern“ beschrieb, diese Situation mit dem distanzierenden Satz charakterisiert hat: „Ich in Berlin machte dasselbe wie immer, das was überall – ich durchlebte mein Leben – und Berlin interessierte mich insofern, inwieweit es meine Existenz durchdrang.“
Gombrowicz war damals Gast des Berliner Künstlerprogramms, mit dem über Jahrzehnte hinweg auch viele griechische Künstler nach Berlin gekommen sind, so der Komponist Jannis Xenakis, dessen Konzept von Raum und Zeit die Arbeit von Pantelis Sabaliotis in dessen Pariser Zeit stark beeinflusst hat, so der Bildhauer und Maler Konstantin Tsoklis, der für Kanella Tragousti eine wichtige Rolle spielte. Über das Künstlerprogramm kamen zum Beispiel auch Alexis Akrithakis, Vlassis Caniaris, Jannis Kounellis und Jannis Psychopedis, der hier in der Galerie im Körnerpark schon mehrfach ausgestellt hat.
Wenn es für diese ganz unterschiedlichen Künstler einen gemeinsamen Nenner gibt, so ist es der kosmopolitische Charakter ihrer Arbeit. Dies gilt auch für Kanella Tragousti und für Pantelis Sabaliotis. Entsprechend offen und vielschichtig ist auch das Thema gewählt, unter dem sie ausstellen: „Spuren und ‚Metaplasseis’“ also: Spuren und Umformungen, Umgestaltungen, Transformationen. „Spuren“ ist zunächst der Titel, den Kanella Tragousti für ihre in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten gewählt hat, und „Metaplasseis“ steht für die Rauminstallation von Pantelis Sabaliotis; doch könnte man auch beide Begriffe zusammenführen bei der Betrachtung beider Ausstellungsteile und ihrer Wechselwirkungen. Das Thema „Spuren und Transformationen“ verweist auf die Präsenz des Vergangenen, auf die Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit, zugleich aber auch darauf, dass Vergangenheit uneinholbar ist, trotz aller Versuche, etwas Authentisches von ihr festzuhalten. Das Thema hat zwei Dimensionen, eine materielle und eine geistige. Wie die beiden Künstler damit umgehen, möchte ich mit einigen Worten umschreiben.
Kanella Tragousti zeigt vor allem einige Werkzyklen aus der allerjüngsten Zeit, vornehmlich in Mischtechnik. Während sie früher auch zahlreiche großformatige Ölbilder schuf, hat sie sich in den letzten Jahren immer mehr auf kleine Formate konzentriert. Auch diese können, wie ein Mikrokosmos, die Weite und Tiefe einer ganzen Welt enthalten. Zugleich motivieren sie die Besucher, genauer hinzuschauen, und schärfen die Sinne. Sie überwältigen nicht durch monumentale Formen, sondern verkörpern gewissermaßen die real existierende Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter, die durch aktive Annäherung überwunden werden kann. Diese Anstrengung führt zum Dialog und wird somit umso reicher belohnt.
Mit einer „Partitur“ vergleicht die Künstlerin die Sequenzen ihrer kleinen Arbeiten. Erst in der Gesamtheit der Komposition erschließt sich das in den einzelnen Bildern vielfach variierte Thema, das Leitmotiv. Nicht nur zur Musik, auch zur Literatur und vor allem zum Film gibt es viele Bezüge. Das hängt mit der Weite ihres Schaffens-Horizontes zusammen. So hat sie vor ihrer künstlerischen Ausbildung Philologie und Semiologie studiert und ihr Diplom für eine Untersuchung zum Verhältnis von Sprache und Bild erhalten. Auch mit dem Medium Film ist sie eng vertraut, hat mehrfach mit Theo Angelopoulos zusammengearbeitet, selbst Drehbücher geschrieben und an Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt.
Mit dem Ausstellungs-Motto „Spuren und Metaplasseis“ ist der Ansatz ihrer Arbeit treffend charakterisiert. Vor allem geht es um Erinnerung, um Spuren vergangenen Geschehens, die im Gedächtnis bewahrt, immer wieder gedanklich bewegt, dabei aber auch vielfach verändert worden sind; umgestaltet, transformiert in eindringliche Bildmotive oder rätselhafte Verfremdungen. Es können Worte und Buchstaben sein, die als skripturale Kunst ein neues Eigenleben entfalten, oder abstrahierte Figuren, die fragil und gestisch bewegt die Frage nach Identität umkreisen, oder magische Tiergestalten, die mythischen Geschichten zu entstammen scheinen, oder Häuser in archaischer, fast kindlicher Form, die wie Lebewesen auftreten und zu agieren scheinen.
Besonders eindrucksvoll sind jene Arbeiten, in denen das Thema „Erinnerung“ mit den Motiven „Traum“ und „Schatten“ verbunden wird. Das Medium der künstlerischen Fotografie kommt bei Kanella Tragoustis anderen, hier nicht gezeigten Werkreihen auch allein ganz wunderbar zur Wirkung, zum Beispiel in der Sequenz „Der unsichtbare Blick“, die auch 2003 in Berlin in der Otto-Nagel-Galerie zu sehen war, Portraits von Menschen mit geschlossenen Augen, oder in den „Momenten der Kindheit“ für die Kulturhauptstadt Patras im Jahr 2006. Hier nun spielt die Fotografie eine zentrale Rolle im Kontext der Mischtechnik. Immer verschlüsselter werden die „Spuren“, immer radikaler die Transformationen, immer verschleierter und verblasster die Bilder, die nun einen weiten Assoziations-Rahmen bieten. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen ist schwierig, emotionsbeladen und manchmal auch mit Ängsten behaftet. Der gefilterte Blick ist vielleicht nicht präzise, aber umso aufschlussreicher, weil es ihm gelingen könnte, zum Wesentlichen vorzudringen. Als „Kleine Geständnisse“ deutet die Künstlerin diesen „Spuren“-Zyklus, und gibt uns damit einen Einblick in den sehr persönlichen, existenziellen Entstehungs-Hintergrund jener Arbeiten, denen sie für sich selbst auch eine fast psychotherapeutische Wirkung zuschreibt: „Manchmal, in Zeiten der Einsamkeit, verlangen diese Erinnerungsfragmente, die als unausgesprochene Wörter, Bilder, Impressionen vergessen in uns ruhen, beharrlich von uns, definiert zu werden. Und so wollte ich lauschend diese kaum fühlbaren, feinen Linien wie einen Windhauch in die Sinneswelt integrieren. Vielleicht aus einer träumerischen Haltung heraus möchte ich sie leichter machen und mich von ihren Schatten befreien.“
Ganz anders nun das Werk von Pantelis Sabaiotis und seine Auseinandersetzung mit dem Thema „Metaplasseis“. Der Künstler hat für diese Ausstellung, für diese nicht ganz einfach zu bespielende, weil extrem lange und extrem schmale Galerie eine Rauminstallation entwickelt, die Bilder und Skulpturen aus unterschiedlichen Werkreihen in den Dialog treten lässt und für die Besucher auch eine Dramaturgie der Wahrnehmung anbietet, mit rhythmisch gegliederten Stationen und einem Höhepunkt an der hinteren Stirnwand.
Dabei spielt ein Ideogramm, ein Schriftzeichen, eine Schlüsselrolle. Es steht für das Wort „ieró“, was zunächst übersetzt werden könnte mit „das Allerheiligste“. Es führt leitmotivisch durch verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit dem Thema „Metaplasseis“, als Transformation von Materie in Raum und Zeit. „Iero“, das „Heiligtum“, hat allerdings hier keine weihevolle oder religiöse Bedeutung. Der Künstler bezeichnet es als „Rätsel“ und verweist mit dieser Interpretation auf ein Geheimnis, das enthüllt werden kann, oder auf die überraschende Umkehrung von Schein und Sein, die zu entdecken ist.
Als skulpturales Objekt wiederum ist „Iero“ die Verkörperung aller in diesem Ideogramm verborgenen Bedeutungen. Erscheint es auf den ersten Blick als schwere, massive, steinerne Skulptur, erweist es sich beim näheren Schauen und Fühlen als fragiles, zartes, federleichtes Objekt, dessen Materialien die erfindungsreiche Sprache der Gegenwartskunst sprechen, zugleich jedoch auch zeitübergreifende, archaische Symbole beinhalten: ein Steropor-Körper mit Baumwolle umwickelt, in Quarz getränkt und eingehüllt von weißem, rauem Salz.
Muss man mit den wissenschaftlichen und philosophischen Hintergründen vertraut sein, die den lebensumspannenden thematischen Rahmen für das Werk von Pantelis Sabaliotis abstecken? Muss man die ionische Natur-Philosophie verstehen? Muss man die Kunst der Alchemisten, die Thesen Heraklits vom ständigen Prozess des Werdens und Wandelns und von der spannungsvollen Einheit der Gegensätze kennen oder die Bedeutung der Gestalten aus der griechischen Mythologie wie Teiresias, Sibylle oder Kassandra, die manchen der Arbeiten ihren Titel geben? Hilfreich wäre eine solche Kenntnis schon, aber notwendig ist sie nicht. Möglich ist auch ein Zugang, der vor allem ästhetisch und sinnlich ist, auf den zweiten Blick dann die intellektuellen, aber auch die spielerischen und ironischen Dimensionen der Arbeiten erkennbar werden lässt.
Denn während die antiken Philosophen uns gerade heute zu den Themen Natur und Zeit einiges Wesentliche zu sagen haben, umkreisen die Kunstwerke von Pandelis Sabaiotis diese immer wiederkehrenden Fragen auf ihre besondere Weise. Die These „Nur eine Sekunde liegt zwischen damals und heute“ veranschaulicht uns der Künstler in seinen Bildern und Objekten. Lustvoll experimentiert er und kombiniert klassische, edle Materialien mit Fundstücken aus dem Alltag: Gold und Metall, Bienenwachs und Quarz, aber auch Profanes wie Brot und Papier, Rostspäne und Palmblätter, Zivilisations-Abfall wie Schaumstoff-Matratzen oder noppige Luftpolsterfolien. Die Birkenstücke vom Schlachtensee oder eine auf dem Flohmarkt gefundene Löwenhaut mit authentischen Kratzspuren eines längst vergangenen Kampfes werden auf höchst komplizierte Weise konserviert, manchmal über Jahre hinweg, und in Kunstwerke transformiert, in denen sich zwei von vielen Facetten des Themas „Metaplasseis“ spiegeln.
Pantelis Sabaiotis hat als Kind Ikonen gemalt und im Rahmen seiner künstlerischen Ausbildung byzantinische Fresco-Malerei studiert. Manche Verbindungslinien mögen in diese persönlichen Anfänge zurückweisen, manche seiner Themen mögen der Antike entnommen sein. Die Materialität jedoch und die in ihr eingebundene Symbolik sind Teil der Gegenwartskunst und von nostalgischer Vergangenheits-Beschwörung denkbar weit entfernt. Die Jahrtausende alte Maltechnik der Enkaustik, bei der Farbpigmente mit Hilfe von Wachs aufgetragen und zum Leuchten gebracht werden, verbindet in Sabaiotis’ Arbeiten die unterschiedlichsten Materialien und wird – zum Beispiel in der Veränderung, die das Bienenwachs durch Feuer erfährt – selbst zum Symbol für Zeit und Transformation. Das gleiche gilt für manche Farb-Nuancen, die allein durch Zeit entstehen – zum Beispiel durch langjährige Zersetzungsprozesse, die das Silber unter der Einwirkung von Salz erfährt oder das Gold durch die langsame, aber unaufhaltsame Oxydation seines Kupfer-Anteils.
Die „Metaplasseis“, hier als stofflich-materieller Einstieg in philosophische Themen, bilden einen spannungsvollen Kontrast zu den poetischen Reflexionen, mit denen sich Kanella Tragousti auf „Spuren“-Suche begeben hat. Wir laden Sie ein, beide Teile der Ausstellung mit zwei spannenden künstlerischen Handschriften zu entdecken.
Prof. Dr. Stefanie Endlich, Berlin 2008
Publizistin und Kunstwissenschaftlerin